„Der Sprung in die Freiheit“
Im Gespräch: Prof. Hans Joachim Teichler und Dr. Michael Niemetz im Experteninterview zum 100. Geburtstag von Margaret Lambert (Gretel Bergmann), die jüdische Ausnahmehochspringerin während der Zeit des Nationalsozialismus
Lieber Prof. Teichler, lieber Dr. Niemetz,
wenn man in den letzten Wochen in die S-Bahn in Berlin-Brandenburg gestiegen ist, las man an vielen Bahnhöfen die Plakate zum Thema: „Die größte Katastrophe ist das Vergessen“ (eine Aktion der Diakonie in Deutschland).
Am 12. April 2014 feiert Margaret Lambert in New York ihren 100. Geburtstag. Als Leiter des Museums für Christen und Juden in Laupheim, der Stadt in der Gretel Bergmann geboren wurde, begeht man einen großen Festakt zu ihrem Geburtstag. Wie blicken Sie auf die Biographie dieser jüdischen Ausnahmeathletin in diesen Tagen zurück?
Michael Niemetz: Die Stadt Laupheim möchte Frau Lambert mit der Feier zum Geburtstag gratulieren und Gäste aus unterschiedlichen Bereichen zusammenführen, um an die bewegende Geschichte Margaret Lamberts zu erinnern. Der Festakt findet nahe des heutigen Gretel-Bergmann-Stadions statt und ist geprägt von ehrenamtlicher Beteiligung und der Kooperation mit Schulen. Wir wollen aber nicht nur zurückblicken, sondern auch vermitteln, welche Rolle die Biografie Frau Lamberts für unser Heute und Morgen spielt. In diesem Sinne wird es auch Veranstaltungen im Museum geben. Ihr Schicksal ist uns eine andauernde Mahnung gegenüber Unterdrückung und Misshandlung und gebietet uns den größten Respekt vor diesem Leben.
Was ist das Besondere an ihrem Leben und was können wir – die SporthistorikerInnen und JournalistInnen – aus dieser beeindruckenden Biographie Bergmanns lernen?
Michael Niemetz: Zunächst scheint mir der Lebenswille Frau Lamberts für jeden vorbildlich. Er ist das existentielle Gegengewicht zu Verfolgung und Mord im Nationalsozialismus. Und bis heute betrachtet spiegelt Frau Lamberts Biografie den langen Weg von der Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland bis hin zu Dialog, Aussöhnung und Schritten in eine gemeinsame Zukunft. Nichts davon – weder der schrittweise Weg noch das historische Bewusstsein, daraus Lehren zu ziehen – können wir als selbstverständlich bezeichnen. Um so mehr bedarf es der Vergegenwärtigung anhand dieses wohl einzigartigen Lebensbeispiels und seiner Weitgergabe an die nächsten Generationen.
Herr Prof. Teichler, mit der Ausstellung „Vergessene Rekorde – Jüdische AthletInnen vor und nach 1933“ wurde im Rahmen der Erinnerungskultur ein wesentlicher Beitrag für die Sportgeschichte in Deutschland geleistet. Innerhalb einer dreijährigen Wanderschaft konnten die Schicksale jüdischer AthletInnen so regional in vielen deutschen Orten nicht in Vergessenheit geraten. Ganz persönlich gefragt: Was fühlen Sie in diesen Tagen wenn Sie an den 100. Geburtstag von Margaret Lambert denken?
Prof. Teichler: „Erst einmal freut es mich, das Margaret Lambert, die uns bei der Erstellung der Ausstellung ‚Vergessene Rekorde’ persönlich unterstützt hat, in der Lage ist, ihren 100. Geburtstag bei relativ guter Gesundheit zu feiern. Gleichzeitig erinnert dieser Tag an einen Tiefpunkt der olympischen Geschichte, den Ausschluss der deutschen Rekordhalterin im Hochsprung von den Olympischen Spielen Berlin 1936 allein aus antisemitischen Gründen. Das deutsche olympische Komitee verzichtete auf eine konkrete Medaillenchance und ließ sogar einen möglichen dritten Startplatz für die eigene Mannschaft im Frauenhochsprung frei, um zu vermeiden dass eine Jüdin für Deutschland eine Medaille gewinnt und so das Dogma der überlegenen Herrenrasse widerlegt. Das Perfide an diesem Betrug ist die Tatsache, dass man mit der Mitgliedschaft von Gretel Bergmann (heute M. Lambert) den ‚Beweis’ dafür geführt hatte, auch in der deutschen Mannschaft könnten Juden bei sportlicher Eignung starten. Damit wollte man vor allem die Protest- und Boykott-Bewegung in den USA beruhigen, was ja auch schließlich – wenn auch knapp – gelang. Erst als das US-Team unterwegs war, wurde Gretel Bergmann mit der falschen Begründung unstetiger Leistungen aus der Mannschaft ausgeschlossen. Eine Reaktion des IOC erfolgte nicht. Dabei war bekannt, dass Gretel Bergmann gerade den deutschen Rekord mit 1,60 m egalisiert hatte. Unsere Ausstellung bewirkte übrigens, dass dieser Rekord mit 73jähriger Verspätung vom Deutschen Leichtathletik-Verband rückwirkend anerkannt wurde.“
Im Sommer 2015 wird in Berlin erstmalig die Makkabiade ausgetragen. Sie wurde seinerzeit 1932 als Alternative zu den Olympischen Spielen für die jüdische Sportbewegung entwickelt. Mittlerweile ist sie das drittgrößte Sportereignis nach den Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften weltweit. Deutschland ist seit 1969 dabei und hat auf Grund der nationalsozialistischen Machtergreifung – wie es Vergessene Rekorde beispielhaft in der Ausstellung gezeigt hat – seine eigene Geschichte. Wo sehen Sie Prof. Teichler zukünftig Anknüpfungspunkte zum Erhalt der Sportgeschichte in Deutschland, sprich, wie kann die heutige sportjournalistische Moderne sich der Vergangenheit gemeinsam mit der Wissenschaft (Neudeutsch „Public History“) stellen?
Prof. Teichler: „Ich muss Sie korrigieren: deutsche jüdische Sportler waren von Anfang an dabei! Ich denke dabei unter anderem an die deutsche Speerwurfrekordlerin Martha Jacob, die – allerdings im britischen Team – 1933 in Prag zwei Goldmedaillen gewann und 1935 in Palästina – jetzt für das deutsche Team – zwei Silbermedaillen erringen konnte. Wenn im Sommer 2015 die Makkabiade in Berlin ausgetragen wird, kehrt die Makkabiadebewegung an ihren internationalen Sitz von 1929-1932 zurück. Leider vergisst der Sport, der im Heute lebt und bestenfalls das Morgen plant, oftmals seine eigene Geschichte. Da es im Deutschland des 20. Jahrhunderts besonders die beiden deutschen Diktaturen waren, die den Sport besonders förderten, um Defizite an anderer Stelle zu übertünchen, tut die Erinnerung oftmals weh und wird daher gern vermieden. Es wäre die Aufgabe einer sportwissenschaftlichen und allgemeinen Sportgeschichtsforschung diese Erinnerungsarbeit wissenschaftlich zu begleiten bzw. erst zu ermöglichen. Ich kann mir einen akademisch gebildeten Sportlehrer, der mit den Namen Jahn und Coubertin nichts anzufangen weiß, nicht vorstellen. Zu jedem akademischen Fach gehört die Kenntnis der Geschichte des eigenen Faches. Was bei Kunst, Architektur, Musik, Recht, Deutsch normal und Voraussetzung für das Studium ist, muss auch für universitäre Sportlehrerausbildung gelten. Dass es in Deutschland nur noch zwei Professuren für Sportgeschichte gibt, ist eine unverzeihliche Fehlentwicklung einer medaillenfixierten Sportwissenschaft. Die notwendige historische Begleitung sportlicher Großveranstaltungen wird in Zukunft immer dürftiger ausfallen, wenn diese Marginalisierung der Sportgeschichte anhält.“
Als ehemalige leitende Koordination der Ausstellung „Vergessene Rekorde“ konnte das gesamte Team erfreulich feststellen, dass man die Präsentation eigentlich umbenennen müsste. Unter anderem gibt es bereits seit einigen Jahren die Initiative im DOSB an vergangene herausragende Persönlichkeiten zu erinnern. So wurde Margaret Lambert am 12. Mai 2012 in die „Hall of Fame“ des Deutschen Sports aufgenommen. Wie würden Sie beide abschließend die Biographie von Gretel Bergmann einordnen beziehungsweise beschreiben, wenn sie folgendes Zitat von James W. Pennebaker zur Hilfe nehmen: „Die Geschichte klärt sich im Licht der Gegenwart, und die Gegenwart wird selbst durch ihren Kontext strukturiert.“
Dr. Niemetz: Eine immer länger werdende Zeitgeschichte anhand einer einzigen Biografie strukturieren zu können, ist schon sehr ungewöhnlich. Nicht umsonst wurde dieses Schicksal mehrfach verfilmt. Die Aufarbeitung ist damit aber bei weitem nicht abgeschlossen.
Prof. Teichler: Jede Epoche ist aufgefordert sich wissenschaftlich ein neues und besseres Bild von der Vergangenheit zu machen. Dieser neue Blick auf die olympische Geschichte befestigt allerdings den Eindruck einer besonderen Nähe zwischen Olympia und autoritären gesellschaftlichen Systemen.
Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
(Die Fragen stellte Dr. Carina Sophia Linne, 2. Geschäftsführerin des Zentrum deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg e.V.)